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Fallen, Sabotagen und Selbstbetrug in der Sucht

Aktualisiert: 21. Dez. 2024



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Es gibt kleine und große, offensichtliche und versteckte, gefährliche und weniger gefährliche. Die Rede ist von Fallen, Minen bzw. Stolpersteinen, denen wir Alkoholiker immer wieder aufs Neue begegnen. Die offensichtlichsten Fallen sind: den Alkohol zuhause zu lagern, in das Stammlokal mit den Trinkfreunden zu gehen, im Supermarkt zu lange am Alkoholregal zu stehen, einen Zwischenstopp bei meinem Lieblingswürstelstand einzulegen usw. Ich denke, diese Spezies benötigt keine weitere Erklärung.


Anders sieht es bei den weniger offensichtlichen Stolpersteinen aus. Sie verkleiden sich gerne und wirken harmlos. Beispiele hierfür sind oft Personen aus dem sozialen Umfeld, die meiner Erfahrung nach selbst gerne zur Flasche greifen. Offensichtlich sind jene, die unbedingt wollen, dass ich ein Glas trinke. Weniger offensichtlich – und gefährlicher – sind jene, die zwar sagen, dass sie die Nüchternheit großartig finden, es aber nicht so meinen, bzw. die gemeinsame Dynamik in der Vergangenheit häufig dazu geführt hat, dass aus einem vermeintlich harmlosen Treffen (informeller Austausch, Geschäftstreffen, Kaffeehausbesuch, …) ein Saufgelage wird. Diese Menschen werden durch unsere Nüchternheit daran erinnert, dass sie selbst zu viel trinken. Und das wiederum bringt Glaubenssätze ins Wanken und erzeugt Dissonanzen bei diesen Personen. Anschließend wollen sie den Status quo wiederherstellen: das gemeinsame Trinken. Die Kommunikation mit solchen Menschen erfolgt häufig nonverbal, und die zwischenmenschlichen Dynamiken sind oft festgefahrene Verhaltensmuster, die scheinbar die Kontrolle über uns einnehmen und uns dazu bringen, wieder Alkohol zu trinken.


Darüber hinaus gibt es ungesunde Gruppendynamiken, in denen das Trinken als eine Form der Männlichkeit und Stärke gesehen wird. Wer wenig verträgt, rutscht in der Hackordnung ab, und wer viel verträgt, darf sich als (vermeintlichen) Rudelführer betrachten. Wer hier mitspielt und sich unterordnet, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder mit dem Trinken beginnen und in der Abwärtsspirale der Sucht landen. Gerade in den ersten Monaten oder Jahren der Nüchternheit soll man hier genau aufpassen. Es erfordert einiges an Erfahrung, Selbstvertrauen und Selbstsicherheit, um sich solchen Dynamiken auszusetzen. Heute wähle ich meine Schauplätze und das Umfeld sehr behutsam. Woher ich das weiß? Durch Beobachtung, Selbstreflexion und die Tatsache, dass ich selbst ein Spieler in der Alkoholliga war. Vermutlich hätte ich die Auszeichnung des MVP erhalten. (Most Valued Player aus der American Football League.)


Eine große Falle bzw. ein Selbstbetrug ist auch die Flucht: Ich hatte beispielsweise vor, für mehrere Monate durch Afrika zu reisen. Nach außen hin, um die wunderschönen Landschaften und spannenden Kulturen kennenzulernen. Insgeheim aber, um vor mir selbst und meinen Problemen zu flüchten. Ein Ortswechsel kann sicherlich inspirierend sein, doch möchte ich auch hier ehrlich zu mir sein: Die Probleme und meine Alkoholkrankheit verschwinden nicht, nur weil ich den Kontinent wechsle. Somit hätte ich mich betrogen und sabotiert, und eine vermeintlich interessante Reise hätte sich als potenzielle Harakiri-Mission entpuppt. Lieber schaue ich genau hin und reflektiere gewissenhaft.


Und genau diese bedachte oder achtsame Form des Lebens bringt mich zum Thema Selbstbetrug: Wenn ich weiß, dass mich gewisse Situationen, Dynamiken oder Personen immer wieder ins gleiche Schlamassel führen und ich mich ihnen dennoch immer wieder aufs Neue aussetze bzw. die Konsequenzen meines Handelns nicht wahrhaben möchte, dann betrüge ich mich selbst. Dieser Akt kann aber auch genauso gut beim Besuch des Würstelstandes, dem Alkohol zuhause usw. passieren.


Es erfordert Erfahrung, viele nüchterne Freunde, viel Disziplin und vor allem gnadenlose Ehrlichkeit, um sich nicht selbst unnötig in Gefahr zu begeben. Mit der Zeit habe ich meine persönlichen (und fremden) Stolpersteine, Sabotageversuche und Selbstbetrugsmuster kennengelernt. Und wenn ich mir nicht sicher bin, ob ich ein Wagnis eingehen soll, rufe ich einen nüchternen Freund an und frage um Rat. Im Supermarkt gehe ich entspannt an der Weinauswahl vorbei und denke mit Vorfreude an das griechische Joghurt, das ich mir für den Abend kaufen werde. Meinen Würstelstand umgehe ich anfangs, um mir die Seitenstraßen anzusehen, und anstatt in mein Stammlokal zu gehen, besuche ich das Fitnessstudio oder treffe nüchterne Freunde auf einen Kaffee. Keine Sorge: Nach einiger Zeit habe ich mich an die Situationen gewöhnt, und es ist das Normalste der Welt geworden, den Alkohol auszublenden. Ich bin nicht mit einer Flasche Whisky auf die Welt gekommen. Oder möchte ich mich hier wieder selbst betrügen?



Dieser Blog dient als Anregung und Inspiration für Menschen, die ein Alkoholproblem haben und informiert allgemein - auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Erfahrung - über die Krankheit. Er ist kein substitut für professionelle therapeutische oder medizinische Hilfe. Wenn Du ein akutes Problem hast oder professionelle Hilfe benötigst, dann wende Dich an einer der dafür vorgesehenen Stellen.

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