Trinke ich zu viel, oder bin ich Alkoholiker?
- NICHOLAS
- 15. Nov. 2024
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 19. Dez. 2024

Ich bin (trockener) Alkoholiker, das weiß ich. Auch, dass mich diese Krankheit bis an mein Lebensende verfolgen wird. Aber ist jeder Mensch, der zu viel trinkt, auch einer? Die Antwort ist „Nein“. Es gibt Menschen, die täglich Alkohol trinken, ihrer Arbeit nachgehen, eine gesunde Familie haben und ihren Interessen nachgehen. Es entsteht kein Problem durch das Trinkverhalten, und Komorbiditäten bleiben für gewöhnlich aus. Diese Menschen sind unter Umständen auch mal betrunken oder trinken mehr. Sie halten sich an ihre Regeln und haben bei Trinkpausen weniger oder keine Komplikationen.
Beim Alkoholiker sieht das anders aus: Ich musste trinken, und ich meine „musste“. Häufig kannte ich kein Morgen, und mein Konsum eskalierte komplett. Die Regeln, die ich mir aufstellte, hielt ich nicht ein. Ein klassisches Beispiel ist das Wochenendtrinken: Ich habe meist mehrere Tage angehängt oder vorverlegt. Bis hin zu dem Punkt, an dem ich jeden Tag trank. Oder die Anzahl der Getränke: Auch hier habe ich die Dosis immer wieder gesteigert. Trinkpause? „Mach ich drei Wochen lang!“ Nach 1,5 war es dann schon wieder vorbei. All diese Vorhaben kamen meist mit einem Haufen Ausreden daher. Diese formte ich mir zusammen, wie es gerade passte. „Heute doch ausnahmsweise zwei Bier mehr.“ Für gewöhnlich war es nicht nur heute und nicht nur zwei mehr. Alkoholpause unterbrechen? „Ich bin gerade super drauf, und meine letzte (ebenfalls abgebrochene) Pause liegt erst einen Monat zurück.“ »Außerdem ist das Wetter schön.« Der Unterschied zum „zu viel Trinkenden“ ist das Wort „muss“. Er oder sie kann trinken, ich muss.
Darüber hinaus habe ich mir ganze Gedankenkonstrukte zurechtgelegt, um mir zu beweisen, kein Alkoholiker zu sein. Dies manifestierte sich in meinem Fall erst recht spät. Zuvor war mir alles egal, und ich bildete mir ein, das Leben eines Rockstars zu führen. Als immer mehr Menschen den Kontakt zu mir mieden und ich selbst immer (insgeheim) überzeugter davon war, dass ich ein Alkoholproblem habe, entwickelte ich eine enorme Energie und betrieb einen gewaltigen Aufwand, mir das Gegenteil zu beweisen. Ich wollte es nicht wahrhaben und die Welt davon überzeugen. Nach kurzen Nächten betrieb ich einen großen Aufwand, um doch noch in der Früh pünktlich zu sein. Regelmäßig. Ich verstellte mich, wo es nur ging, um nicht aufzufallen. Ich besuchte jede erdenkliche Fort- und Weiterbildung an meinem Arbeitsplatz, nur um nicht des Stillstands bezichtigt zu werden. Ich ging mehrmals pro Woche ins Fitnessstudio, um die Flüssigkeitsansammlungen in meinem Gesicht klein zu halten und nicht einem Klischee zu entsprechen. Ich wechselte meine Alkoholquellen regelmäßig, um nicht von den Verkäufern ertappt zu werden. Familie, Freunde und Bekannte traf ich erst, als ich schon ein paar Gläser intus hatte, damit mein Konsum und die zittrigen Hände nicht auffallen würden. Nach den Treffen besorgte ich mir bei der Tankstelle oder dem Würstelstand Nachschub. Ich betrieb eine Maskerade und brannte dabei aus, bis schlussendlich das Kartenhaus zusammenfiel. Alles nur, um mir und der Welt zu beweisen, dass ich kein Alkoholiker bin.
Der Schaden, den wir dabei bei unseren Familien, Freunden, Arbeitgebern und vor allem uns selbst anrichten, kann schier grenzenlos sein. Doch wo und wann zieht man die Grenzen zwischen dem Zuviel-Trinker und dem Alkoholiker? Und woher weiß ich, welcher der beiden ich bin? Mir fällt dazu eine Antwort ein: Wir Alkoholiker wissen, dass wir ein Problem haben, und wollen es für gewöhnlich nicht wahrhaben. Wer sich jetzt ertappt fühlt, sollte in sich gehen und die Frage beantworten, ob er oder sie mit den Schäden leben möchte, die unweigerlich entstehen, wenn weitergetrunken wird. Angefangen bei einer verkorksten Karriere, zerstörten Beziehungen und Familien, Folge- und Begleiterkrankungen über Obdachlosigkeit, Schulden, vernichtetes Hab und Gut bis hin zur Vereinsamung, Verarmung und dem Tod ist alles drin. Das kann man doch nicht wollen? Leider schon. Die Sucht ist stärker als jede Vernunft, und die Lüge, die ich mir gerne selbst auftischte, dass es nur andere, aber nicht mich treffen würde, nahm ich dankend an. Je später wir uns für ein Leben ohne Zellgift entscheiden, desto heftiger trifft uns die Faust der Realität, sobald wir aus unserem Schlaf aufwachen. Genau das sind der Alkoholismus und die Sucht, nüchtern betrachtet, nämlich: ein Alptraum.
Dieser Blog dient als Anregung und Inspiration für Menschen, die ein Alkoholproblem haben und informiert allgemein - auf Basis von wissenschaftlichen Erkenntnissen und persönlicher Erfahrung - über die Krankheit. Er ist kein substitut für professionelle therapeutische oder medizinische Hilfe. Wenn Du ein akutes Problem hast oder professionelle Hilfe benötigst, dann wende Dich an einer der dafür vorgesehenen Stellen.
Eine wirklich beeindruckende Schilderung. Gratuliere zu dem schonungslosen Mut!